Die Welt brennt, gefühlt.
Ein Krieg, von dem wir dachten, dass er niemals stattfinden würde, findet vor unserer Haustür statt und der Protagonist in dieser Geschichte droht der Welt unverhohlen mit „Reaktionen, die die Welt noch nie zuvor gesehen hat“
Man kann sich jetzt streiten was der Despot und Kriegstreiber damit gemeint hat, aber sicherlich nicht Blümchenpflücken am Wegesrand mit der NATO und anschließendem Kaffeetrinken in geselliger Runde und Haare kämmen. Er droht also der gesamten Welt mit Vergeltung sollte man sich ihm in den Weg stellen. Dass solche Aussagen nur schwer zu ertragen sind, auch im gesamthistorischen Zusammenhang, ist normal.
Die Welt hatte zwei Weltkriege. Zweimal wurde die Welt von Leid und Millionen Toten bis ins Mark erschüttert. Ich kann mich noch daran erinnern, wie in meinem Geschichtsstudium der Professor fragte, ob etwas Gutes dabei herausgekommen ist. Ich finde die Frage ist nicht zu beantworten, da es keine „Was-wäre-wenn“ Betrachtung dazu in Frage kommt, weil es schlicht keine alternative Realität gibt.
Auch jetzt gibt es sie nicht.
Wie Annalena Baerbock sagte: „Wir sind in einem anderen Europa heute Morgen aufgewacht“
So überschlagen sich die Nachrichten. Social Media mutiert zu einem unerträglichen Moloch an Desinformationen, Despoten-Fanboys und Typen, die mit verstörenden Memes der ganzen Absurdität die Krone aufsetzen, gefolgt von Regimeträumereien von bestimmten Politikern und misanthropen Äußerungen zu Flüchtenden, die ja nur unser Geld wollen und Krieg kein Grund zu Flucht darstelle.
Wenn Krieg kein Grund zu Flucht ist, WAS DANN?
So saß ich gestern mehr fassungslos, sorgenvoll und mit zunehmender Angst vor dem Fernseher und lauschte den Ansprachen von Scholz und Biden. Völlig zwiegespalten in den Gedanken, bloß nicht den russischen Aggressor weiter zu provozieren und dem Wunsch ihm Einhalt zu gebieten. Beide Empfindungen die völlig konträr zueinanderstehen.
Währenddessen trudelten die ersten Nachrichten von Freunden ein, die im Ausland leben. Meine amerikanische Freundin bot mir direkt an, dass wir zu ihnen können. Am besten sofort, solange man Europa noch verlassen kann. Ein anderer Freund aus Spanien schrieb mich ebenfalls an, dass wir jederzeit bei Ihnen bleiben könnten. So sieht es aus, wenn die Bedrohung überall und vermutlich global wahrgenommen wird.
Diese freundschaftliche Geste machte das Herz aber nur schwerer. Was tun? Was ist richtig? Bleiben? Warten? Hoffen? Gehen?
Biden spricht und meine Tochter tanzt in ihrem Fledermauskostüm durch das Wohnzimmer und singt Lieder von Encanto mit. Diese Situation ist an Surrealität nicht zu überbieten. Ich entscheide mich ins Bett zu gehen, mit meinem Kind zu kuscheln, sie im Arm zuhalten, Disney zu gucken und mich runterzuleveln.
Meine Gedanken sind ein Konglomerat an Erinnerungen aus meiner Kindheit, als junge Erwachsene, als Ehefrau und später dann als Mutter. Es ist durcheinander und schwer zu greifen.
Ich bin Jahrgang 81, ich gehöre zu einer privilegierten Generation die nie Krieg erlebt hat. Der zweite Weltkrieg war lange vorbei, der Kalte Krieg ebenfalls. Allerdings sahen wir uns konfrontiert mit dem Golfkrieg und dem Kroatienkrieg. Der Terror durch den radikalen Islam nahm ich mehr wahr und spürte auch die direkten Auswirkungen. Ich saß in der Bahn, in der die Kofferbombe nicht hochging und ich war zwei Tage zuvor im Kölner Stadtarchiv, bevor dieses zusammenbrach. Gut, letzteres ist kein kriegerischer oder terroristischer Akt gewesen, aber man war gefühlt nah dran sein Leben zu verlieren. Dennoch habe ich mich in all den Jahren nie in meiner Existenz bedroht gefühlt. Ich hatte nie Angst, dass ein Wahnsinniger so unkalkulierbar ist und eventuell einen dritten Weltkrieg heraufbeschwört und auch noch mit nuklearen Vergeltungsschlägen droht. Und dennoch, alles in Allem, sind wir eine privilegierte Generation, die immer noch vom Wirtschaftswunder profitiert, von Großeltern die Deutschland wieder mit aufbauten, von Eltern die sich für die Emanzipation einsetzten und ja, auch für eine Demokratie sorgten und sie trugen.
All das Gute schien in den Moment bedroht, aber ich schlief ein.
Um 1:56 Uhr letzte Nacht durchbrach Sirenengeheul die Nacht. Ich saß senkrecht im Bett, in völliger Alarmbereitschaft, in Panik und Angst, während meine Tochter sich die Decke über den Kopf zog, weil es laut war. Und mal ganz platt gesprochen: abends ins Bett zu gehen, nicht wissend was heute Nacht passieren wird, weil man ihm alles zutraut, und dann so geweckt zu werden ist übel.
Ich registrierte in dem Moment nicht die drei hintereinander folgenden Töne. Tausend Bilder und Geschichten meiner Eltern und Großeltern über Fliegerangriffe, Bunker, Flucht und Tote brachen in meinen Kopf. Ja, und auch das ist Geschichte. Ich wuchs mit diesen Erzählungen auf. Mein Vater wurde 1936 geboren, meine Mutter 41.
Ein Großelternpaar erzählt so gut es ging von dieser Zeit. Sehr differenziert und selbstkritisch. Aber ich sehe heute noch die Panik in den Augen meiner Mutter, wenn sie Sirenen hört. Silvester ist für sie eine Qual.
Das andere Großelternpaar schwieg. Der Großvater trank, war gewalttätig und beging später Suizid im Haus meines Vaters.
Das sind alles Auswirkungen, die ein Krieg hat. Er entmenschlicht, er ist brutal, es gibt keine Gewinner, sondern nur Verlierer, er traumatisiert. Auch Generationen danach. Auf jeder Seite. Und natürlich möchte ich das meinem Kind ersparen, natürlich möchte ich das sie die Welt genau so sieht wie ich sie sah…unbekümmert und ein Ort mit mannigfaltigen Möglichkeiten sich selbst zu entdecken, ein Ort wo jeder das Recht hat das zu sein was er ist, ein Ort wo sie keine Angst haben muss.
Und obwohl diese Geschichten nun auch die gestrige Nacht befeuerten, ist es wichtig das ich sie habe. Das wir alle sie haben. Die Geschichte darf nicht vergessen werden. Das Leid, welches durch Krieg verursacht wird, darf nicht vergessen werden. Ja, es ist ein neues Europa und vermutlich auch eine neue Welt mit einer Bedrohung vor der eigenen Haustür.